Die Braunschweiger Mediävistin Regina Toepfer untersucht in ihrem neuen Buch, wie alte Denkmuster bis heute weiterwirken.
Der dynastische Druck, Nachkommen zu zeugen, war im Mittelalter eminent. Unter bestimmten Umständen war aber auch Kinderlosigkeit hoch angesehen. Wie mittelalterliche Denkmuster unsere Sicht auf erhoffte Elternschaft noch heute prägen und wo sie sich unterscheiden, untersucht die Braunschweiger Mediävistin Regina Toepfer in ihrem Buch „Kinderlosigkeit – Ersehnte, verweigerte und bereute Elternschaft im Mittelalter“. Florian Arnold sprach mit ihr.
Warum haben Sie das Thema Kinderlosigkeit aufgegriffen?
Es spielt in der öffentlichen Diskussion und im Leben vieler Menschen eine wichtige Rolle – zum einen die ungewollte Kinderlosigkeit im Kontext mit der Reproduktionsmedizin. Aber auch die gewollte Kinderlosigkeit wird oft problematisiert mit Blick auf die Geburtenentwicklung. Als Mediävistin, die sich für kulturhistorische Perspektiven interessiert, kam mir die Idee, ausgehend von der aktuellen Diskussion zu untersuchen, wie das Thema im Mittelalter behandelt wird, welche Kontinuitäten und welche Unterschiede es gibt. Ich bin in der mittelalterlichen Literatur überreichlich fündig geworden.
Sie schreiben, dass die mittelalterliche Sicht auf das Thema Kinderlosigkeit unser Denken noch heute beeinflusst – inwiefern?
Unser Blick ist heute auf die Reproduktionsmedizin gerichtet. Wenn ein Paar keine Kinder bekommt, heißt es, geht doch zu einem Kinderwunschzentrum und lasst euch helfen. Technologisch gibt es Fortschritte. Aber das grundsätzliche Vertrauen darauf, dass eine höhere Instanz uns helfen kann, ist ein Denkmuster aus dem Alten Testament. Die Kontinuität lässt sich erklären mit der langen Tradition von Erzählungen über Geburtswunder. Der Glaube, dass einem ein Kind geschenkt werden kann, wenn man sich nur recht darum bemüht und die richtigen Schritte vollzieht, ist uralt. Wenn man sich übrigens mal anschaut, wie oft reproduktionsmedizinische Verfahren glücken, ist die Rate gar nicht so hoch.
Im Mittelalter gab es die dynastische Pflicht, Nachkommen zu zeugen. Speist sich die Erwartung der Gesellschaft und des Staates an Paare, Kinder zu bekommen, noch aus dieser Wurzel?
Bei Hochadligen war die Erwartung, das Geschlecht zu erhalten, sehr hoch. Dazu gibt es auch die meisten Quellen, über die einfache Bevölkerung wissen wir wenig. Heute sind es ökonomische Gründe wie die Sicherung des Rentensystems, die einen gesellschaftlichen Druck erzeugen, Kinder zu bekommen. Aber die individuelle Motivation ist ja eine ganz andere. Da spielen Vorstellungen von Lebenssinn und persönlicher Erfüllung eine Rolle. Und die gehen zurück auf eine Umprägung von Argumentationsmustern im 16. Jahrhundert. Die Reformation setzte die Erfüllung in der Partnerschaft gleich mit dem Glück, Kinder zu bekommen. Eheglück wurde zum Elternglück.